Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: vom „Konvivialismus“

Aus einer technik- und kapitalismuskritischen Perspektive heraus legte der österreichisch-amerikanische Autor und Philosoph Ivan Illich (1975/2014) das Adjektiv „konvivial“ (laut Duden: ursprünglich lateinisch convivalis für „zum Gastmahl gehörend“) vor,

um eine Gesellschaft zu bezeichnen, die ihren Werkzeugen (dies können Techniken, aber auch Institutionen sein) vernünftige Wachstumsbegrenzungen auferlegt.

Diese Begrenzungen seien deshalb notwendig, weil ohne diese die Technik dazu neige, ihre Leistungen gegen die Menschen zu richten, denen sie doch Problemlösung und Freiheit verspreche. Niko Paech (2014) übernimmt dann auch Illichs Buch Selbstbegrenzung die Vorstellung einer „konvivialen Technologie„, die solche Hilfsmittel beinhalte,

welche zwar die Produktivität menschlicher Arbeitskraft erhöhen, diese aber nicht ersetzen.

Paech nennt markante Beispiele (Fahrräder, mechanische Rasenmäher, Segelschiffe)

für Technologien bzw. Designs, die vergleichsweise arbeitsintensiv sind, dafür aber umso weniger Energieträger, Fläche und Kapital benötigen.

Darüber hinausgehende Verkehrsmittel und Industrieprodukte sollten als sparsam ergänzend, quantitativ reduziert und innerhalb materieller Grenzen betrachtet werden.

Unter dem Begriff „Konvivialismus“ wird im konvivialistischen Manifest (2014) alles subsumiert, das

zur Suche nach Prinzipien beiträgt, die es den Menschen ermöglichen, sowohl zu rivalisieren wie zu kooperieren, und zwar im vollen Bewusstsein der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen und in der geteilten Sorge um den Schutz der Welt. Und im Bewusstsein unserer Zugehörigkeit zu dieser Welt.

Als eine

universalisierbare […] Lehre […], [… deren] konkrete Anwendung notwendig lokal und situationsabhängig sein

werde, schreiben ihm das Kollektiv der Convivialistes die folgenden vier Grundprinzipien zu:

    • Prinzip der gemeinsamen Menschheit

Es existiert nur eine Menschheit, die in Person jedes ihrer Mitglieder zu achten ist.

    • Prinzip der gemeinsamen Sozialität

Menschen als soziale Wesen sind von ihren sozialen Beziehungen bestimmt.

    • Prinzip der Individuation

Ermöglicht werden müsse, die Entfaltung der Individualität, die Entwicklung eigener Fähigkeiten, frei sein und handeln zu können – nur begrenzt durch das Gebot der Vermeidung von Schäden gegenüber anderen Menschen.

    • Prinzip der Konfliktbeherrschung

Der Ausdruck der eigenen Individualität kann eine legitime Form des Opponierens gegeneinander hervorrufen. Den bindenden Rahmen bildet hier die „gemeinsame Sozialiät“ im Sinne einer schöpferischen Rivalität anstelle einer zerstörerischen.

Dem in eine manifeste Form gegossenen Konvivialismus eine greifbare Entsprechung in unseren realen Gesellschaften zu verschaffen – dazu dürfen wir uns aufgerufen fühlen.


Literaturquellen:

Paech, Niko (2014): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, 8. Auflage, München: oekom verlag, S. 59
[ISBN 978-3-865-81181-3]

sowie

Adloff, Frank/Leggewie, Claus (Hrsg.) (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld: transcipt Verlag, S. 11; S. 59-62
[ISBN 978-3-837-62898-2]

äquivalente Internetquelle:

diekonvivialisten.de

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: von „Prozessen des Aufhörens“

Luise Tremel (2015) sieht den Anlass der von ihr und anderen geforderten sozial-ökologischen Transformation nicht etwa in dem

Drang zur Eneuerung, sondern [… vielmehr in der] Erkenntnis, das etwas aufhören muss – die gigantische Produktion von CO2, die Ausbeutung aller in der Welt aufzufindenden Rohstoffe.

Ein aktives Aufhören sei notwendig angesichts der

Beharrungskräfte des Status Quo

bzw. eines

etablierte[…n] System[s] der Ausbeutung

in Wirtschaft und Gesellschaft.

Ihrer Einschätzung nach unterliegen

Prozesse des Aufhörens einer anderen Logik als Prozesse des Anfangens

und so stellt sie drei Thesen zur Logik der ersteren auf, die sie aus einer vermeintlich „gelungene[n] Abschaffung“ ableitet – jener der Sklaverei im atlantischen Raum:

  1. Abschaffung lässt sich nur realisieren, wenn alle an ihr beteiligt sind – womit der Staat in den Mittelpunkt rückt.
  2. Eine politische Mehrheit für ein Verbot/die Abschaffung ist nur über eine besondere Form der Kommunikation zu erreichen: das moralische Problem rückt ins Zentrum, die „Post-Abschaffungs-Zukunft“ wird vage gehalten, aber mit dem Prädikat „gut“ versehen – das Abzuschaffende ist ja seinerseits schlecht.
    Ziel: Kleinprofiteure sollen sich gegen die bestehende Ausbeutung aussprechen können. Gefahr: Eskalation ist absehbar, wenn Profiteure nicht zustimmungsfähig sind.
  3. Die (gesellschaftliche) Auseinandersetzung, welche die Transformation angestoßen hat, formt gleichzeitig die Gestalt der transformierten Gesellschaft.
    Mögliches Ergebnis: Es fehlt der vormals ausgebeuten Gruppe (Menschen des Globalen Südens, nachfolgenden Generationen, Tieren) bzw. dem Gut (hier also der natürlichen Umwelt) an weiterführenden Begleitung und zugleich schmerzt der Verlust der „ausbeutungsbedingten Privilegien„, auf den die Gesellschaft ihrerseits (z.T. bewusst) kaum vorbereitet wurde (siehe These 2).
    Gefahr: das „Funktions- und Machtsystem“ hinter der Ausbeutung konsolidiert sich trotz offizieller „Abschaffung“.

Tremel beabsichtigt mit der Präsentation ihrer Thesen angeblich vor allem,

sowohl die Auseinandersetzung als auch den Ausstieg für die abschaffende Gesellschaft und das Objekt der Ausbeutung glimpflicher zu gestalten als etwa bei der Sklaverei.

Sie spricht in diesem Zusammenhang von „gerichtete[n] Innovationen„, die auf die Substituierung bisheriger Lösungen zur Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse zielen.
Möglicherweise ist in ihrem geplanten Sammelband Innovation – Exnovation dazu schon bald genaueres (vor allem: praktischeres) zu erfahren.


Literaturverweis:

Tremel, Luise (2015): Etabliertes loswerden?, In: taz.zeozwei, 03.2015, S. 58
[ISSN 2194-1246]

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „Energiesklaven“-Metapher

Das „fossile Energieregime“ unserer Zeit stellt weit mehr als nur eine spezifische Form der Energieversorgung dar. Das wird uns spätestens dann bewusst, wenn wir dessen Verschränkungen mit den Gewohnheiten unseres Lebens – von Freizeitaktivitäten bis hin zu Konsum- und Mobilitätsmustern – erfassen.

Bereits 1949 beschrieb der rumänische Schriftsteller und Diplomat Constantin Virgil Gheorghiu in seinem Roman 25 Uhr (1949/1951) einen „technischen Sklaven“ als

Gefahr, die alle Menschen bedroht

aufgrund der Besetzung der

lebenswichtigen strategischen Positionen unserer Gesellschaft, Armee, Verkehr, Versorgung und Industrie, um nur die Kardinalpunkte zu erwähnen

durch eben diesen „technischen Sklaven“ in einer ebensolchen Weltordnung,

der uns täglich tausenderlei besorgt. Er bewegt unser Auto, er zündet unser Licht an, er läßt das Wasser über unsere Hände fließen, wenn wir uns waschen, er […] erzählt uns erheiternde Geschichten, wenn wir den Knopf an unserem Raido drehen, er baut Straßen, durchschneidet Berge!

In Niko Paechs Befreiung vom Überfluss (2014) verweist der Begriff „Energiesklave“ – im Sinne von Gheorghiu – als

elementarer Stützpfeiler des modernen Lebens

auf eben solche technischen Innovationen/Hilfsmittel/Werkzeuge, welche der Verwandlung von

vormals körperlich zu verrichtende Arbeiten in maschinelle, elektrifizierte, automatisierte, digitalisierte, dafür aber umso energieabhängigere Vorgänge

Vorschub leisten.

Jean-François Mouhot (2011) geht sogar so weit, unsere Abhängigkeit hinsichtlich der Nutzung fossiler Energieträger mit jener des Herren von der Sklavenarbeit in Sklaverei-Gesellschaften zu vergleichen (vgl. Sommer/Welzer 2014). Selbst auf moralischer Ebene muss diese Analogie als angemessen gelten, denn letztlich fügen wir – beabsichtigt oder nicht und wenn auch zeitlich wie geografisch versetzt – anderen Menschen Leid zu durch unseren Einsatz fossiler Brennstoffe und den damit verbundenen Treibhausgasemissionen.

Zuspitzung findet dies noch in der Metapher desEnergiesklaven“ von John R. McNeill (2005), die Sommer und Welzer (2014) wie folgt entfalten: Demnach

benötigte zum Ende des 20. Jahrhunderts ein Mensch zur Aufrechterhaltung seines Lebensstandards durchschnittlich 20 solcher »Energiesklaven«, also das Äquivalent von 20 Arbeitskräften, die 24 Stunden pro Tag und 365 Tage pro Jahr für ihn arbeiten

würden.

Fragen wir uns alle für einen Moment: Wie viele „Energiesklaven“ halte ich mir, um meine gewachsene Komfortzone aufrechtzuerhalten? Oder halten wir es auch weiterhin mit Franz Beckenbauer und seiner Blindheit für Sklaverei – selbst dann, wenn sie (auch in seinem Namen) ganze Stadien errichtet?


Literaturquellen:

Gheorghiu, Constantin Virgil (1951): 25 Uhr, 4. Auflage, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 58-68
[ISBN nicht verfügbar]

Paech, Niko (2014): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, 8. Auflage, München: oekom verlag, S. 40f.
[ISBN 978-3-865-81181-3]

sowie

McNeill, John R. (2005): Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 3
[ISBN 978-3-893-31643-4]

Mouhot, Jean-François (2011): Past connections und present similarities in slave ownership and fossil fuel usage, In: Climatic Change, Volume 105, Issue 1-2, Cham: Springer International Publishing S. 329-355
[ISSN 1573-1480]

beide nach:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 62
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: über „Radikale Ökopsychologie“

Andy Fisher (Psychotherapeut, Wildnislehrer und Dozent) möchte eine Psychologie für eine ökologische Gesellschaft etablieren und verwendet das Wort „radikal“ dessen Herkunft entsprechend: also im Sinne von „zur Wurzel vordringen“, was für ihn bedeutet,

sich mit den Dingen in der Tiefe auseinanderzusetzen und dabei zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beizutragen. […] Folglich fordern radikale Ökologen, dass die ökologische Krise auf der systemischen Wurzelebene anzupacken sei: kulturell, gesellschaftlich, politisch, ökonomisch, philosophisch, historisch – und psychologisch. Darüber hinaus erklären sie, dass die ökologische Krise nicht bloß nach politischen Reformen und etwas grüneren Lebensstilen rufe, sondern nach einer historischen Transformation,

an deren Ende eine völlig veränderte Gesellschaft stünde, die Fisher kurz als „ökologische Gesellschaft“ deklariert. In dieser würden sich

Produktiv- und Konsumkraft […] in die größere »Gesellschaft der Natur«

einfügen und dem Leben auf unserer Erde könnte Gelegenheit zur Regeneration gegeben werden. Was nun die Psychologie betreffe, müsse ein

Konflikt zwischen dem Hauptziel der Psychologie – dem Wohlergehen des Menschen – und dessen anthropozentrischer Missachtung des Wohlergehens der Erde als Ganzer

thematisiert und angegangen werden. Eine

Synergie zwischen persönlicher und planetarer Gesundheit

gelte es ins Bewusstsein zu rufen. Fisher geht noch ein Stück weiter und stellt eine quasi-natürliche Verbindung zwischen Radikaler Ökopsychologie und Kapitalismuskritik her, da

sich die Psychologie die individualistischen, marktwirtschaftlichen Ideologien unserer kapitalistischen Gesellschaft zu eigen gemacht

habe und damit einen Pakt

mit den Kräften eines naturbeherrschenden Gesellschaftssystems [… eingegangen sei], das nicht nur die Erde malträtiert, sondern auch den Menschen immenses Leid zufügt, ja, die menschliche Natur ausbeutet und knechtet.

Für Fisher ist

eine extraktivistische Gesellschaft, die weiterhin Kapital aus der brutalen Ausbeutung der mehr-als-menschlichen wie auch der menschlichen Natur schlägt,

von Konkurrenz, Unsicherheit und Niedertracht gekennzeichnet. Wir müssten

uns der Infiltration unserer sozialen Beziehungen durch das kapitalistische System widersetzen

und so zu einer

Kultur der Verbundenheit

kommen, welche die Mensch-Natur-Beziehung auf eine ursprüngliche, respektvolle Grundlage stellen würde.

Klassisch psychologischen bzw. psychatrisch Kategorien wie Narzissmus, Depression und Sucht ließen sich laut Fisher leicht auf die

Mechanismen einer Gesellschaft [zurückführen], deren oberste Priorität die Akkumulation von Geld ist[…].

Er begreift die Radikale Ökopsychologie als geradezu notwendigerweise kritische Psychologie, wenn sie ihrem Anspruch, zu den psychologischen Wurzeln der ökologischen Krise vorzustoßen, gerecht werden wolle. Ihre Theorien müssten

die komplexe Verwobenheit zwischen Gesellschaft, Ökologie und Psychologie nachzeichnen[…]. Die durch eine solche Theorie informierte Praxis muss wiederum wiederum Veränderung auf der kulturellen und gesellschaftlichen – nicht bloß auf der individuellen – Ebene anstreben.

Wie genau der von Fisher angedachte radikal-ökopsychologische

Dreiklang aus Therapie, Wiedererinnerungsarbeit und Kritik der kapitalistische Verwertungslogik

konkret aussehen soll, deutet er am Beispiel einer „Wildnisbewegung“ leider nur an. Hier wären spannende Narrative der Gelingens angebracht. So lange verharrt die Radikale Ökopsychologie wohl im Wollen.


Literatur- und Internetquelle:

Fisher, Andy (2014): Mensch, Natur, Psyche. In: oya, 5. Jahrgang 2014, Ausgabe 28, September/Oktober 2014, S. 58-59

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: über eine „licence to grow“

Martina Merz will in ihrem Kommentar Degrowth? Ach was! unter der Rubrik Neue Wirtschaft in der aktuellen Ausgabe (03.2015: Essen & Kämpfen) der taz.zeozwei – Das Magazin für Klima. Kultur. Köpfe weg von den in ihren Augen

verkopften Begriffe[n] und Systemerklärungsversuche[n]

wie Postwachstum und Degrowth – sie gingen quasi nichtssagend

an der unternehmerischen Realität vorbei.

Später stellt Frau Merz – neben der E-Fahrrad-Branche – vor allem

Biofirmen, ethisch-ökologische[n] Banken[…] und andere[n] ökologisch-soziale[n] Unternehmen

eine umfassende wie plakative

»licence to grow«

aus, mit der diese dann unter anderem

das Böse […] verdrängen

könnten. Diesem erklärten „Bösen“ stellt sie (ganz dualistisch) ein vermeintlich

gutes Wachstum

gegenüber, welches legitim sei und nur der politischen Förderung bedürfe, um den Menschen eineRechnung“ darüber vorzulegen, was sie

wie teuer zu stehen kommt.

Hier könnte Frau Merz möglicherweise unbewusst in die u.a. von Sommer und Welzer (2014: 78-86) beschriebene Falle der Ökonomisierung bzw. Inwertsetzung tappen. Ein Preisschild an jedem Teil der Bios- und Geosphäre, um eine solche „Rechnung“ über die

wahren Kosten der herkömmlichen Warenwelt

aufmachen zu können – das folgt letztlich nur konsequent der spätkapitalistisch-globalisierten Marktlogik, die in alle Bereiche des Lebens hineinzuwirken angelegt ist.

Ihr Abschlussplädoyer lautet:

Ran an das Verdrängungswachstum für ein gutes Leben!

Frau Merz als Gründerin einer „umweltorientierten“ Designagentur und Mitglied bei UnternehmensGrün (dem Bundesverband der „grünen Wirtschaft“) hebt durchaus mittelständisches und kleinunternehmerisches Ausbrechen aus dem Wachstumsdogma hervor und präsentiert mit Volker Plass (Bundessprecher der Grünen Wirtschaft aus Österreich) sogar eine Vision einer sesshafteren, sich vegetarisch ernährenden Weiterverwendungs- und Reparaturgesellschaft, in der Verzicht zu erwarten sei, der aber durch einen

Zugewinn an neuen sozialen Gesellschaftsformen (share economy, solidarische Landwirtschaft)

aufgefangen werden.

Sie trägt mit ihrer Wortwahl (Beispiel: „unternehmerische Realität“ und „Verdrängungswachstum“) sowie einem immanenten Dualismus (Gut vs. Böse) jedoch leider nicht wirklich zu einem konvivalistisch-solidarischen Grundton – weder in der Debatte noch in Bezug auf das von ihr betonte wirtschaftlichen Handeln – bei.


Literaturverweis:

Merz, Martina (2015): Degrowth? Ach was! In: taz.zeozwei, 03.2015, S. 71
[ISSN 2194-1246]

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 78-86
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: im „Selbstexperiment“

Stephan Rammler besteht im Interview mit Sommer und Welzer (2014) darauf,

dass das Private politisch ist. Es geht darum, die Dinge selber anders zu machen und eine private politische Praxis zu entwickeln. Das heißt, wenn ich über Konsummodelle oder ökologisch verträgliche Ernährungsgewohnheiten nachdenke, dann sollte ich selber damit experimentieren. Wenn ich über neue Mobilitätskonzepte nachdenke, sollte ich versuchen, neue Mobilitätspraktiken in meinen Alltag zu verweben. Es geht ja um Glaubwürdigkeit im politischen Prozess. Ein verändertes Konsumverhalten setzt zumindest Markierungen. Grüner Konsum wird die Welt nicht »retten«, aber im Privaten sich anders zu verhalten ist immerhin der erste Schritt.

Lasst uns uns selbst gegenüber glaubwürdig handeln – treten wir experimentierfreudig andere Pfade als den konsumistischen mit jedem neuen Schritt aus!

Vielleicht sehen wir aber gar nicht ein, warum unsere Schritte angesichts des globalen wachstumsgetriebenen Ganzen zählen sollten. Sommer und Welzer (2014) erkennen diesen vermeintlichen Widerspruch selbst an:

Insgesamt scheinen die oft sehr faszinierenden, aber alles in allem doch partikularen, wenn nicht sogar luxurierenden Transformationsbeispiele ausgesprochen klein gegenüber dem großen Problem einer strukturellen Einrichtung der Welt in Nicht-Nachhaltigkeit, wie sie gerade stattfindet. Tatsächlich kann man aber […] nicht wissen: […] welche weiteren, unbeabsichtigten und nicht-antizipierbaren Folgen ein Pfadwechsel hat, dessen Notwendigkeit hier begründet worden ist. Jeder Schritt in eine vom business as usual abweichende Richtung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch der nachfolgende zweite, dritte, vierte Schritt in diese Richtung erfolgen wird – genauso wie umgekehrt das Verfolgen des konventionellen, nicht-nachhaltigen Pfades die Wahrscheinlichkeit einer irgendwann stattfindenden Abweichung verringert.

Den Grund für dieses Festhalten an einer irgendwann begonnenen Schrittfolge (in diese, jene oder solch eine Richtung) liefern sie gleich mit:

Menschen korrigieren einmal gefällte Entscheidungen und einmal eingeschlagene Richtungen ungern, weil das nicht nur den Orientierungsbedarf erhöht, sondern auch die Infragestellung und Revision einer ganzen Kette von Entscheidungen erfordert (Welzer 2005).

Haben wir genug Orientierungspunkte sammeln können? Und: wie stark hängen wir an unseren Entscheidungsketten der Vergangenheit? Stellen wir uns diesen Fragen!


Literaturverweis:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 157/177
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Welzer, Harald (2005): Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag
[ISBN 978-3-100-89431-1]

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: auch „kontraintuitiv“ handeln

Den sozialökologischen Bewegungen attestieren Welzer und Sommer (2014): sie würden

regelmäßig institutionalisiert und vom Markt absorbiert

und in Teilmärkte abgedrängt. Diese in den Kapitalismus eingebaute Bewegungsbremse ließen sich dadurch erklären, dass

bislang nur selten die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse der Gesellschaft

im Fokus dieser sozialökologischen Bewegungen gestanden hätten. Daher schlussfolgern Sommer und Welzer:

Transformationen (und Transformationsdesign) müssen daher – auch wenn das zunächst kontraintuitiv erscheint – auf der Ebene des Sozialen ansetzen und nicht bei Themen wie Energie, Umweltschutz etc. Erst auf der Ebene des Sozialen entscheidet sich die Frage, wie eine Gesellschaft eigentlich aussehen soll, in der man leben will.

An der Frage nach dem viel zitierten „guten Leben“ – und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür – kommen wir offenbar nicht vorbei. Und sie richtet sich vordringlich an jene Menschen, die sozialökologische Bewegungen in selbiger halten wollen: in Bewegung eben.


Literaturverweis:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 68
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Postwachstum zwischen Anführungszeichen: über „Horizontverschiebung“

In der 28. Ausgabe der Zeitschrift oya aus dem September/Oktober 2014 schreibt Andrea Vetter unter der Überschrift des „Entwachstum“ darüber, dass die Vision hinter dem, was weltweit mit dem Begriff „Degrowth“ belegt wurde, letzlich auf eine Verschiebung des eigenen Horizonts hinausläuft. Vermutlich können wir unsere Vorstellungskraft hinsichtlich alternativer Lebens- und Wirtschaftsweisen vor allem dadurch vergrößern, dass wir den Rahmen des bislang Vorstellbaren neu vermessen. Dazu kann eine zurückgewonnene Kultur des Geschichtenerzählens und des tatkräftigen Probierens maßgeblich sein. Serge Latouche fordert uns in diesem Zusammenhang zu einer

Entkolonialisierung des Imaginären

auf. Das heißt dann wohl, unsere Imagination sei bislang nicht über den Status einer Kolonie eines neoliberalen, wachstumsökonomischen Zeitgeistes hinausgekommen. Das gilt es zeitnah zu ändern. Wenn aber auch eine „Degrowth-Gesellschaft“ mehr sein soll, als eine kollektive (Wirtschafts-)Wachstumsrücknahmesammelstelle, dann wäre sie wohl am ehesten – mit den Worten von Andrea Vetter – eine

Gesellschaft des Wesentlichen.

Das wiederum wirft die umfassendere Frage nach dem auf, was wir als dieses Wesentliche erachten wollen.


Internetquellen:

Vetter, Andrea (2014): Entwachstum. In: oya, 5. Jahrgang 2014, Ausgabe 28, September/Oktober 2014, S. 14-18

Latouche, Serge (2005): Nachdenken über ökologische Utopien. Gibt es einen Weg aus der Wachstumsökonomie? In: Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe vom 11.11.2005

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: von „Häufigkeitsverdichtung“

Für Jürgen Osterhammel (2011) stellt sich die vermeintliche „Große Transformation“ viel mehr

als ein Zusammenspiel von zahlreichen kleinen Veränderungen dar[…].

Diese Veränderungen verlaufen zudem keinesfalls synchronisiert.
Osterhammel vertrat bereits früher (2009), die Ansicht, dass im Falle von

Häufigkeitsverdichtungen von Veränderungen

eine grunsätzliche Umformung von Produktions- und Reproduktionsverhältnissen der Gesellschaft bewirkt werden kann. Die bisherige Erfahrung mit einer solchen Umwälzung (explizit genannt: die Industrielle Revolution) schließt eine administrative oder politische Planung nicht mit ein – aber schließt dieser Umstand eine solche Transformationby design“ aus?


Literaturverweis:

Osterhammel, Jürgen (2011): Geschichtskolumne. Große Transformationen, In: Merkur, Heft 7, 65. Jahrgang, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, S. 625-631
[ISSN 0026-0096]

Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: C.H. Beck, S. 51
[ISBN 978-3-406-58283-7]

beide zitiert nach:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 60
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: die „Sinndimension“

Wenn Sommer und Welzer (2014) in ihrem Buch von Transformation „by design“ sprechen, können sie das nicht, ohne die Sinnfrage aufzuwerfen: Wofür sollten wir eine solche „intentionale Veränderung“ einleiten?

Tatsächlich gewinnen solche Ziele und Vorhaben [eine „Große Transformation“ in Richtung Nachhaltigkeit, die „Energiewende“ oder das „2-Grad-Ziel“] ihren Sinn ja erst darin, dass mit ihnen ein wünschenswerter gesellschaftlicher Zustand aufrechterhalten werden kann. Diese Sinndimension von Transformation gerät in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatte nicht in den Blick, weil sie sich auf technische und ökonomische Gesichtspunkte und auf Probleme der Implementierung eines neuen Energieregimes beschränkt.


Literaturverweis:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 51
[ISBN 978-3-865-81662-7]