Aus einer „rebellischen Abhängigkeit“ in „eine andere Welt“

Wanda Tommasi (1999) wird von Franziska Schutzbach in den Blättern für deutsche und internationale Politik (3’17) „Wider die bequeme Weltuntergangslust“ mit der Wortgruppe der

rebellische[n] Abhängigkeit

in Stellung gebracht. Damit gemeint soll sein: die permanente, zwanghafte Bezugnahme der Rebellierenden auf das, was von ihnen abgelehnt wird.

Schutzbach findet in der Schlussfolgerung daraus alltagstauglichere Formulierungen:

Selbst wenn vieles schlecht läuft und es Zwänge gibt, wo ist der Punkt, an dem ich bereits hier und jetzt Freiheit umsetzen kann?

Ihre Frage geht über in die Betrachtung einer quasi selbstreferentiellen Herrschaftskritik, zu deren Ende sie beitragen möchte:

Mit der Kritik an der Herrschaft ist zwar die Bedeutung und die Wucht von Herrschaft benannt, aber es bleibt unsichtbar, was sonst noch geschieht.

Damit würde in ihren Augen die Reproduktion einer (falschen) Vorstellung einhergehen,

es gebe kein Anderswo der Geschichte, kein Anderswo des Politischen, kein Anderswo der Existenz.

Mit der bloßen Ablehnung des Falschen folge man also (ungewollt) der Logik des Abgelehnten, man begebe sich in die zitierte Abhängigkeit:

Man richtet sich im Feld des Kritisierten ein und akzeptiert, selbst wenn man es bekämpft, die Dimension, die Richtung und den Raum des Kritisierten.

Mitnichten soll damit der Kritik an (kapitalistischer, autoritärer, patriarchaler) Herrschaft das Wort entzogen werden – vielmehr müsste sie sich ihrer Dependenz bewusst werden und Folgen zeitigen, die in gewisser Weise bereits eingetreten wären.
Ergänzt um Hegel’sche philosophische Herr-Knecht-Überlegungen aus dem Fundus von Simone Weil (1991), erklärt es Schutzbach zur

wichtigste[n] Arbeit der Unterworfenen, ihre Zustimmung zur Unterwerfung innerlich aufzukündigen,

da nur so die äußeren Zwänge solche bleiben und nicht ins Innere vordringen könnten. Die innere Aufkündigung müsse der „Knecht“ – laut Tommasi – gegenüber dem „Herrn“ durch Betonung der eigenen Unterschiedlichkeit im Vergleich mit diesem herausstellen. Und damit nicht genug: darüber hinaus solle er

versuche[n], diese Unterschiedlichkeit in gesellschaftlichen Umlauf zu bringen.

Der „Knecht“ hätte also im Aufkündigungsprozess nicht nur die Differenz zwischen sich und dem „Herrn“ für sich selbst zu erkennen und zu verinnerlichen, sondern müsste zusätzlich damit an die Öffentlichkeit gehen, eine (vermutlich möglichst große) Öffentlichkeit herstellen. Dem philosophischen Knecht – und mehr noch seinen realen Entsprechungen – wird hier viel abverlangt. Für Schutzbach – darin erkennbar von Tommasi überzeugt worden – steht fest,

dass wir einer anderen Welt nur näherkommen, wenn wir deutlich machen, dass diese ein Stück weit schon da ist.

Wenn also (in einem den Autor erfassenden Anflug von ver-Hegel-ter Personifizierung) der stellvertretende geknechtet Igel den symbolischen herrischen Hasen wissen ließe, dass er „schon da“ sei, könnte das nicht nur den/die Hasen an den Rand der Erschöpfung bringen, sondern auch den Igel und sein Umfeld darin bestätigen:

Es ist gut zu spüren, dass ich es anders mache.

Wenn das „Notwendige zu tun“ nicht zu „der Logik unserer Welt“ passe, wie Schutzbach abschließend behauptet – dann meint sie wohl

  1. damit nicht die Logik dieser anderen, schon vorhandenen Welt;
  2. dass Notwendigkeiten wie solidarisches Handeln, wenn ein anderer Mensch Hilfe benötigt, uns allen schon jetzt möglich sind (beispielhaft wird hier eine Frau in der Schweiz angeführt, die einer anderen Frau unter anderem bei Behördengängen hilft – beide haben Migrationsgeschichten);
  3. dass wir uns so aus der „rebellischen Abhängigkeit“ befreien können, weil an die Stelle blindwütiger Herrschaftskritik eine klare Distinktion gegenüber dieser nicht alternativlosen Herrschaft in konkretes Handeln mündet.

Beginnen wir derweil vorn: bei der inneren Aufkündigung der Unterwerfung in einer Welt, der eine andere bereits sicht- und spürbar auf dem Fuße folgt.


Schutzbach, Franziska (2017): Wider die bequeme Weltuntergangslust, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2017, S. 89-94

Tommasi, Wanda (1999): Die Arbeit des Knechts, in: Diotima: Jenseits der Gleichheit. Die weiblichen Wurzeln der Autorität, Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, S. 87-119

Weil, Simone (1991): Cahiers, Band I, München, S. 74-78 sowie S. 105

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „desillusionierte Linke“

Die Einsicht des Micha Brumlik in seinem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik (1’17), die ihm selbst

unabweisbar

erscheint, klingt schon ein wenig nach dem Fukuyama’schen „Ende der Geschichte“, wenn sie den

auf einer kapitalistischen Wirtschaft beruhende[n] (europäische[n]) demokratische[n] Sozialstaat

für „das Beste“ hält,

was die von Marx über Lenin bis Lukács zum revolutionären Subjekt erhobene Arbeitschaft welthistorisch erreichen konnte und vielleicht überhaupt erreichen kann.

Wie gut, dass Brumlik gleich noch

die Antwort einer aufgeklärten, liberalen, aber eben auch desillusionierten Linken

mitliefert, die sie neben ihrem „Kompass“ mit den Himmelsrichtungen entlang des

Prinzip[s] der Würde des Menschen in politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und versöhnter Verschiedenheit

parat haben sollte und die

nur darin bestehen[… kann], die Kritik am Kapitalismus aufrechtzuerhalten,

wobei er diese bereichert wissen möchte um eine weitere seiner Einsichten, die er widerum von Ulrike Hermann (2017) bezieht, wonach

kein Kapitalismus auch keine Antwort

wäre. Diese bezieht er offenbar aus dem Titel ihres Buches, den Brumlik hier (leicht abgewandelt) zitiert.

Man könnte Brumlik – provokant – zusammenfassen mit den Worten: Zenit erreicht. Mehr ist nicht zu holen. Proletarier aller Länder: findet euch ab!
Oder man betrachtet es als Beschreibung dessen, was gegen den Kapitalismus in dessen Herrschaftsbereich erkämpft wurde und nun gesichert werden soll.

Letzteres kommt jedoch an einer von Brumlik ungenannt gebliebenen Einsicht nicht vorbei: einem Wirtschaftssystem, welches von seinen Apologet_innen mit dem vermeintlichen Heilsversprechen unendlichen Wachstums auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen versehen wird und gleichzeitig global so wirkmächtig ist, muss nicht nur Kritik entgegengebracht werden – es muss nach (über-)lebensnotwendigen sozial-ökologischen Mindeststandards transformiert werden.

Welche Form es dann konkret annimmt und wie wir es dann nennen wollen – das ist Zukunftsmusik, deren Töne wir vielleicht heute schon zu komponieren begonnen haben werden.


Brumlik, Micha (2017): Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue reaktionäre Subjekt, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2017, S. 62

Hermann, Ulrike (2017): Aus der Krise nichts gelernt. Die Mythen der Mainstream-Ökonomie, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2017, S. 71-82

Hermann, Ulrike (2016): Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können, Frankfurt am Main: Westend Verlag