Degrowth by disease

Der Präsident des ifo-Instituts (eigentlich ein eingetragener Verein), Prof. Clemens Fuest, spricht davon, dass

jeder Monat, den wir die Wirtschaft ruhen lassen, […] etwa 3 bis 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts

in der heute-Nachrichtensendung vom 05.04.2020

von Deutschland kosten würde. Diese von einem Mutanten aus der Familie der Coronaviridae (corona = lateinisch für „Kranz“) erzwungene ökonomische Ruhe rüttelt weltweit an Volkswirtschaften. Oder wie Harald Welzer es nennt:

Der ganze wirtschaftliche Stoffwechsel [ist] nach unten gefahren.

in der ersten Sendung des After Corona Club vom 06.04.2020

(Der menschliche wiederum scheint angeregt zu sein, wenn mensch die enormen Massen an Mehl, Nudeln und Toilettenpapier auch nur irgendwie sinnvoll zu verarbeiten gedenkt.)

Was also bedeutet ein fuest’scher Verlust von 3,5 Prozent BIP pro Monat?
Zählen wir nun im Minutentakt Betriebe und Unternehmen, die für Mitarbeitende Kurzarbeit beantragen? Betrauern wir am Boden bleibende Flugzeuge auf Dritt-Startbahnen? Zittern wir mit dem deutschen Aktienindex um eine mythologisch-psychologische 10k-Marke? Wie steht das reale Sterben von Menschen zum ökonomischen Verlust im Verhältnis?
Oder bangen wir vielmehr mit Klein(st)unternehmen, Kunst- und Kulturschaffenden und dem sog. „Solo-Selbstand“ um ihre wirtschaftliche Existenz? Schicken wir dem Applaus für die Menschen, die gerade mit Überstunden in Krankenhäusern, Pflegeheimen, in Postverteilzentren und -wagen, in der Müllabfuhr und an der Supermarktkasse Krisenbewältigung betreiben, vielleicht endlich echte gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung (und damit: BIP-Promillepunkte) hinterher? Nehmen wir den Schmerz derjenigen wahr, die gerade geliebte Menschen verlieren?

Wenn seit 2014 zur Neuberechnung des BIP auch staatliche Rüstungsausgaben, Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Prostitution herangezogen werden – macht das vielleicht klar, warum das ein Messinstrument mit lediglich begrenzter Aussagekraft sein kann.
Die Existenzangst von Menschen ist schwerer zu beziffern: 7 Prozent mehr Kurzarbeitendengeld erhalten Elternteile (gegenüber 60 Prozent für Kinderlose) – darin drückt sich wohl kaum eine echte Wertschätzung aus. Ganz zu schweigen von jenen Menschen, die unmittelbar arbeitslos werden oder mit ihrem kleinen Unternehmen Insolvenz anmelden müssen.
Wie lange hält die Zustimmung zu den bisherigen Maßnahmen im Umgang mit dem C-Virus mit ihren einschneidenden sozialen wie wirtschaftlichen Folgen wohl an?

Werden wir nach den Einschränkungen und den damit verbundenen akuten Einsparungen beim (deutschen) Weltverbrauch einen gewaltigen Rebound-oder Aufhol-Effekt erleben? Oder erkennen mehr Menschen in einer

Phase der Pause […] des Normalbetriebs

Harald Welzer in der ersten Sendung des After Corona Club vom 06.04.2020

die Sinnlosigkeit eines Mehr vom Übermäßigen aus (Wirtschafts-)Prinzip und setzen Gewohnheiten aus der aktuellen Krise des Gesundheitswesens wohl überlegt fort?

Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.

Slavoj Žižek, März 2020

Der selbst- und fremdernannte „Trend- und Zukunftsforscher“ Matthias Horx entwirft in einem „Rausch des Positiven“ eine futur-zwei-eske „Rückwärts-Prognose“ (oder: „Regnose“), die aus dem Herbst 2020 zurückblickt. Zuvor hantiert er mit dem mathematisch-dentalmedizinisch-körpermodifizierenden Begriff der „Bifurkation, den er als „Tiefenkrise“ übersetzt.

Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, über-flüssig machen.

aus dem Artikel „Im Rausch des Positiven: Die Welt nach Corona“ im zukunftsInstitut im März 2020

Globalisierung passé, Spät-/Hyper-/Plattform-/Überwachungs-Kapitalismus out of order? So weit geht Horx in dem Text letztlich nicht, aber:

wir wundern uns, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass ein „Zusammenbruch“ erfolgte – der zuvor bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es  einen „schwarzen April“ gab, einen tiefen Konjunktur- und Börseneinbruch, und obwohl viele Unternehmen pleite gingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.

aus dem Artikel „Im Rausch des Positiven: Die Welt nach Corona“ im zukunftsInstitut im März 2020

Letztlich entscheidet diese (und jede andere) Gesellschaft kollektiv, ob die Transformation by disease von einer Transformation by design abgelöst worden sein wird. Es wäre ihr zu wünschen.

Brauchen wir wirklich drei Autos, Luxusurlaube und Wegwerfmode – brauchen wir das?! Nee! Was wir brauchen, sind: Beatmungsgeräte. Vielleicht sollten wir uns einfach mal vor Augen führen: Das größte Beatmungsgerät da draußen nennt sich „Erde“ – ja, Erde! Und die haben wir, die ist angeschlossen, die läuft und wir genießen das, was sie produziert – nämlich: einen Lebensraum. Nur wir Menschen, wir verhalten uns meistens so: Wir stehen an diesem Stecker, der zur Erde führt und denken: Da könnte man doch mal dran ziehen!

Sebastian Pufpaff in Noch nicht Schicht auf 3sat vom 07.04.2020

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: über eine „licence to grow“

Martina Merz will in ihrem Kommentar Degrowth? Ach was! unter der Rubrik Neue Wirtschaft in der aktuellen Ausgabe (03.2015: Essen & Kämpfen) der taz.zeozwei – Das Magazin für Klima. Kultur. Köpfe weg von den in ihren Augen

verkopften Begriffe[n] und Systemerklärungsversuche[n]

wie Postwachstum und Degrowth – sie gingen quasi nichtssagend

an der unternehmerischen Realität vorbei.

Später stellt Frau Merz – neben der E-Fahrrad-Branche – vor allem

Biofirmen, ethisch-ökologische[n] Banken[…] und andere[n] ökologisch-soziale[n] Unternehmen

eine umfassende wie plakative

»licence to grow«

aus, mit der diese dann unter anderem

das Böse […] verdrängen

könnten. Diesem erklärten „Bösen“ stellt sie (ganz dualistisch) ein vermeintlich

gutes Wachstum

gegenüber, welches legitim sei und nur der politischen Förderung bedürfe, um den Menschen eineRechnung“ darüber vorzulegen, was sie

wie teuer zu stehen kommt.

Hier könnte Frau Merz möglicherweise unbewusst in die u.a. von Sommer und Welzer (2014: 78-86) beschriebene Falle der Ökonomisierung bzw. Inwertsetzung tappen. Ein Preisschild an jedem Teil der Bios- und Geosphäre, um eine solche „Rechnung“ über die

wahren Kosten der herkömmlichen Warenwelt

aufmachen zu können – das folgt letztlich nur konsequent der spätkapitalistisch-globalisierten Marktlogik, die in alle Bereiche des Lebens hineinzuwirken angelegt ist.

Ihr Abschlussplädoyer lautet:

Ran an das Verdrängungswachstum für ein gutes Leben!

Frau Merz als Gründerin einer „umweltorientierten“ Designagentur und Mitglied bei UnternehmensGrün (dem Bundesverband der „grünen Wirtschaft“) hebt durchaus mittelständisches und kleinunternehmerisches Ausbrechen aus dem Wachstumsdogma hervor und präsentiert mit Volker Plass (Bundessprecher der Grünen Wirtschaft aus Österreich) sogar eine Vision einer sesshafteren, sich vegetarisch ernährenden Weiterverwendungs- und Reparaturgesellschaft, in der Verzicht zu erwarten sei, der aber durch einen

Zugewinn an neuen sozialen Gesellschaftsformen (share economy, solidarische Landwirtschaft)

aufgefangen werden.

Sie trägt mit ihrer Wortwahl (Beispiel: „unternehmerische Realität“ und „Verdrängungswachstum“) sowie einem immanenten Dualismus (Gut vs. Böse) jedoch leider nicht wirklich zu einem konvivalistisch-solidarischen Grundton – weder in der Debatte noch in Bezug auf das von ihr betonte wirtschaftlichen Handeln – bei.


Literaturverweis:

Merz, Martina (2015): Degrowth? Ach was! In: taz.zeozwei, 03.2015, S. 71
[ISSN 2194-1246]

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 78-86
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Postwachstum zwischen Anführungszeichen: über „Horizontverschiebung“

In der 28. Ausgabe der Zeitschrift oya aus dem September/Oktober 2014 schreibt Andrea Vetter unter der Überschrift des „Entwachstum“ darüber, dass die Vision hinter dem, was weltweit mit dem Begriff „Degrowth“ belegt wurde, letzlich auf eine Verschiebung des eigenen Horizonts hinausläuft. Vermutlich können wir unsere Vorstellungskraft hinsichtlich alternativer Lebens- und Wirtschaftsweisen vor allem dadurch vergrößern, dass wir den Rahmen des bislang Vorstellbaren neu vermessen. Dazu kann eine zurückgewonnene Kultur des Geschichtenerzählens und des tatkräftigen Probierens maßgeblich sein. Serge Latouche fordert uns in diesem Zusammenhang zu einer

Entkolonialisierung des Imaginären

auf. Das heißt dann wohl, unsere Imagination sei bislang nicht über den Status einer Kolonie eines neoliberalen, wachstumsökonomischen Zeitgeistes hinausgekommen. Das gilt es zeitnah zu ändern. Wenn aber auch eine „Degrowth-Gesellschaft“ mehr sein soll, als eine kollektive (Wirtschafts-)Wachstumsrücknahmesammelstelle, dann wäre sie wohl am ehesten – mit den Worten von Andrea Vetter – eine

Gesellschaft des Wesentlichen.

Das wiederum wirft die umfassendere Frage nach dem auf, was wir als dieses Wesentliche erachten wollen.


Internetquellen:

Vetter, Andrea (2014): Entwachstum. In: oya, 5. Jahrgang 2014, Ausgabe 28, September/Oktober 2014, S. 14-18

Latouche, Serge (2005): Nachdenken über ökologische Utopien. Gibt es einen Weg aus der Wachstumsökonomie? In: Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe vom 11.11.2005