Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: vom „utopischen Überschuss“

Auf die in der taz.am wochenende vom 14./15.11.2015 aufgeworfenen Frage antwortend, wie eingefahrene Routinen zu ändern wären, kommt Stephan Rammler, Professor für Transportation Design & Social Sciences, auf

eine unheimliche Macht

zu sprechen, die dann spürbar werde, wenn wir mit Experimenten im Alltag beginnen und Geschichten entwickeln. Für Professor Rammler steht fest:

Es gibt einen utopischen Überschuss im Denken eines jeden Menschen.

Das taz-Interview beschränkt sich zwar auf die in Teilen elektrifizierte, luftumschiffende, schienengestützte, fahrrad-elnde Zukunft der Mobilität – der von Rammler verzeichnete universal-menschliche Utopieüberschuss wird sich jedoch idealerweise nicht darauf beschränken lassen.

Auch Oskar Negt kommt in seiner Analyse in den Blättern für deutsche und internationale Politik 12/2016 an diesem „überschüssigen Denken“, welches sich in den Utopien aller großen Emanzipationsbewegungen manifestiere, nicht vorbei. Er spricht davon, dass

es […] gesellschaftliche Umbruchssituationen[… gibt], in denen die Phantasieproduktionen, wie die Welt aussehen sollte und was dafür in der Gegenwart zu tun ist, einen überschäumenden Reichtum erzeugt.

Während dies in der Renaissance und selbst in Preußen in den Reformgesetzgebungen, die das Heer ebenso umfassten wie die Bildung, noch kraftvoll zum Ausdruck gekommen wäre, sei in unserer Gegenwart – in Anlehnung an Ernst Bloch – eine

chronische[…] Unterernährung der Phantasie

zu diagnostizieren. In Negts Utopiebegriff, in dem die

Erkenntnis einer als unerträglich empfundenen Situation

auf den

bewussten Willen, die Verhältnisse zum Besseren zu verändern,

trifft, verbirgt sich dessen Potenzial zur Selbstauflösung: erst in Form einer Erweiterung des

selbstbewussten Denkhorizonts des Subjekts

und dann in den Marx’schen Appell an die Verantwortung der Intellektuellen,

nicht nur die Welt zu interpretieren, sondern die Welt auch zu verändern.

Während Rammler diesen Utopie-Überschuss ganz universalistisch im Denken „jedes Menschen“ verortet, betont Negt, dass

die Mächtigen dieser Welt […] keine Utopien[… brauchen], sie erfahren sie in ihrer Lebensausstattung unmittelbar.

Bei Rammler selbst scheint das überschüssige utopische Denken (noch) nicht über Kompromisse hinauszureichen, denn er sehe

gerade keinen Weg, den Kapitalismus abzuschaffen.

Auf die von Naomi Klein in ein Buch gegossene, notwendige Vorbedingung (den Systemwechsel) für die ökologische Transformation angesprochen, betont Rammler den Erhalt von Handlungsfähigkeit und unmittelbaren Alternativen.

In seinem Buch Schubumkehr. Die Zukunft der Mobilität aus dem Jahr 2014 akzeptiere er daher auch

den Rahmen einer kapitalistischen Moderne

und der Weg, den er derzeit sehen würde, führe über die Kommunen – während er den

großen Plan

von „der Politik“ zu einem neuen Rahmen gezimmert sehen möchte. Und da ist er nun wieder ganz bei Negt und seinem „rot-rot-grünen Trialog“, in dem er

das Anfangskapitel einer neuen „großen Erzählung“

verfasst sehen möchte. Schon eine Art Utopiedelegation, auf die sich nicht jeder zu überschäumender Phantasie befähigte Mensch verlassen dürfte.


Literaturverweis:

Negt, Oskar (2016): Rot-Rot-Grün im Trialog: Schaffen wir linke Mehrheiten!, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/2016, S. 83ff.

Rammler, Stephan/Arzt, Ingo & Strothmann, Luise (Interview) (2015): »Wir haben jetzt einen Fukushima-Moment«, In: taz.am wochenende, 14./15.11.2015, S. 17

Klein, Naomi (2015): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, Lizenzausgabe, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg
[ISBN 978-3-7632-5873-4]

Rammler, Stephan (2014): Schubumkehr. Die Zukunft der Mobilität, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
[ISBN 978-3-596-03079-8]

Postwachstum zwischen Anführungsstrichen: im „Selbstexperiment“

Stephan Rammler besteht im Interview mit Sommer und Welzer (2014) darauf,

dass das Private politisch ist. Es geht darum, die Dinge selber anders zu machen und eine private politische Praxis zu entwickeln. Das heißt, wenn ich über Konsummodelle oder ökologisch verträgliche Ernährungsgewohnheiten nachdenke, dann sollte ich selber damit experimentieren. Wenn ich über neue Mobilitätskonzepte nachdenke, sollte ich versuchen, neue Mobilitätspraktiken in meinen Alltag zu verweben. Es geht ja um Glaubwürdigkeit im politischen Prozess. Ein verändertes Konsumverhalten setzt zumindest Markierungen. Grüner Konsum wird die Welt nicht »retten«, aber im Privaten sich anders zu verhalten ist immerhin der erste Schritt.

Lasst uns uns selbst gegenüber glaubwürdig handeln – treten wir experimentierfreudig andere Pfade als den konsumistischen mit jedem neuen Schritt aus!

Vielleicht sehen wir aber gar nicht ein, warum unsere Schritte angesichts des globalen wachstumsgetriebenen Ganzen zählen sollten. Sommer und Welzer (2014) erkennen diesen vermeintlichen Widerspruch selbst an:

Insgesamt scheinen die oft sehr faszinierenden, aber alles in allem doch partikularen, wenn nicht sogar luxurierenden Transformationsbeispiele ausgesprochen klein gegenüber dem großen Problem einer strukturellen Einrichtung der Welt in Nicht-Nachhaltigkeit, wie sie gerade stattfindet. Tatsächlich kann man aber […] nicht wissen: […] welche weiteren, unbeabsichtigten und nicht-antizipierbaren Folgen ein Pfadwechsel hat, dessen Notwendigkeit hier begründet worden ist. Jeder Schritt in eine vom business as usual abweichende Richtung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch der nachfolgende zweite, dritte, vierte Schritt in diese Richtung erfolgen wird – genauso wie umgekehrt das Verfolgen des konventionellen, nicht-nachhaltigen Pfades die Wahrscheinlichkeit einer irgendwann stattfindenden Abweichung verringert.

Den Grund für dieses Festhalten an einer irgendwann begonnenen Schrittfolge (in diese, jene oder solch eine Richtung) liefern sie gleich mit:

Menschen korrigieren einmal gefällte Entscheidungen und einmal eingeschlagene Richtungen ungern, weil das nicht nur den Orientierungsbedarf erhöht, sondern auch die Infragestellung und Revision einer ganzen Kette von Entscheidungen erfordert (Welzer 2005).

Haben wir genug Orientierungspunkte sammeln können? Und: wie stark hängen wir an unseren Entscheidungsketten der Vergangenheit? Stellen wir uns diesen Fragen!


Literaturverweis:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 157/177
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Welzer, Harald (2005): Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag
[ISBN 978-3-100-89431-1]