Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „desillusionierte Linke“

Die Einsicht des Micha Brumlik in seinem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik (1’17), die ihm selbst

unabweisbar

erscheint, klingt schon ein wenig nach dem Fukuyama’schen „Ende der Geschichte“, wenn sie den

auf einer kapitalistischen Wirtschaft beruhende[n] (europäische[n]) demokratische[n] Sozialstaat

für „das Beste“ hält,

was die von Marx über Lenin bis Lukács zum revolutionären Subjekt erhobene Arbeitschaft welthistorisch erreichen konnte und vielleicht überhaupt erreichen kann.

Wie gut, dass Brumlik gleich noch

die Antwort einer aufgeklärten, liberalen, aber eben auch desillusionierten Linken

mitliefert, die sie neben ihrem „Kompass“ mit den Himmelsrichtungen entlang des

Prinzip[s] der Würde des Menschen in politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und versöhnter Verschiedenheit

parat haben sollte und die

nur darin bestehen[… kann], die Kritik am Kapitalismus aufrechtzuerhalten,

wobei er diese bereichert wissen möchte um eine weitere seiner Einsichten, die er widerum von Ulrike Hermann (2017) bezieht, wonach

kein Kapitalismus auch keine Antwort

wäre. Diese bezieht er offenbar aus dem Titel ihres Buches, den Brumlik hier (leicht abgewandelt) zitiert.

Man könnte Brumlik – provokant – zusammenfassen mit den Worten: Zenit erreicht. Mehr ist nicht zu holen. Proletarier aller Länder: findet euch ab!
Oder man betrachtet es als Beschreibung dessen, was gegen den Kapitalismus in dessen Herrschaftsbereich erkämpft wurde und nun gesichert werden soll.

Letzteres kommt jedoch an einer von Brumlik ungenannt gebliebenen Einsicht nicht vorbei: einem Wirtschaftssystem, welches von seinen Apologet_innen mit dem vermeintlichen Heilsversprechen unendlichen Wachstums auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen versehen wird und gleichzeitig global so wirkmächtig ist, muss nicht nur Kritik entgegengebracht werden – es muss nach (über-)lebensnotwendigen sozial-ökologischen Mindeststandards transformiert werden.

Welche Form es dann konkret annimmt und wie wir es dann nennen wollen – das ist Zukunftsmusik, deren Töne wir vielleicht heute schon zu komponieren begonnen haben werden.


Brumlik, Micha (2017): Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue reaktionäre Subjekt, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2017, S. 62

Hermann, Ulrike (2017): Aus der Krise nichts gelernt. Die Mythen der Mainstream-Ökonomie, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2017, S. 71-82

Hermann, Ulrike (2016): Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können, Frankfurt am Main: Westend Verlag

Kapitalismuskritik in der Kritik: Peter Sloterdijk über „etablierte Sozialismen“

Der Philosophieprofessor und Rektor der Staatlichen Hochschule Karlsruhe Peter Sloterdijk macht sich in einem Interview in der aktuellen taz.zeozwei daran, die Sache mit dem Sozialismus und Neoliberalismus einmal (in seinen Augen) richtig zu stellen.

So warnte der Ex-ZDF-Fernsehphilosoph, nachdem der klimapolitische Scherbenhaufen von Kopenhagen bereits angerichtet war, vor einem

sozialistischen Klimatismus

im Sinne behaupteter linker Instrumentalisierung des Klimawandels zur vermeintlichen Durchsetzung des Sozialismus. Von diesem Spezialfall zeigt sich Professor Sloterdijk mittlerweile weniger besorgt – er betont jedoch, dass

wir genügend andere Sozialismen[… hätten], die so etabliert sind, dass wir nicht noch einen weiteren anfügen müssen.

Mit dem Wort „wir“ rechnet er sich übrigens, so lässt er uns später wissen, ganz im Rahmen der üblichen Verwendung

im Deutschen […] einer Gruppe von Personen mit einer gemeinsamen Sorge zu[…].

Es folgt Sloterdijks umfassende Zurückweisung der Anklage gegen einen

angeblich machthabenden Neoliberalismus

und der Vorwurf kontinuierlicher linker Truppenbewegungen

an der etatistischen Front

in Richtung höherer Besteuerung, zunehmender Regulierung und einem Anwachsen von Vorschriften, die beim

bürgerliche[n] Eigenleben

Luftnot hervorrufen würden. Der voranschreitende Ausbau des Sozialstaates bildet das Ende der von Sloterdijk ausgemachten Fesseln des Bürgertums. Diese mit Beispielen zu unterlegen (welche Steuern meint er, welche Regularien und Vorschriften und vor allem: welchen Sozialstaatsausbau?!) scheint ihm wohl nicht notwendig – wäre aber sehr aufschlussreich gewesen.

Dem Karlsruher Hochschulrektor zufolge würde der Neoliberalismus also im Rahmen der

größte[n] Nebelwerferaktion des letzten halben Jahrhunderts

(und trotz all diesen vermeintlichen Nebels doch: „offenkundig“) an die Macht geredet, an der jedoch tatsächlich bereits besagte Sozialismen seelenruhig säßen. Diese (für einen bedeutenden Philosoph der Gegenwart natürlich: leicht) „durchschaubare Finte“ pumpt er zur

klügste[n] ideologische[n] Machenschaft seit des Kollaps des Marxismus

auf, um sie dann – laut vernehmlich – platzen zu lassen.

Für Sloterdijk scheint – mit Ausnahme der von ihm selbst

da und dort [… beobachteten] Russifizierung des Konsumverhaltens[… im Sinne eines Benehmens] wie Konsumapokalyptiker[…, die aus Furcht vor morgiger Geldentwertung] auf die finale Party

setzen würden – keine Gefahr vom (wie beschrieben) nahezu machtlosen Neoliberalismus auszugehen. Eher vom zu wörtlich genommenen Evangelium („Macht euch die Erde Untertan“) und unserem „Individualismus auf Kosten der Welt„.

Was hätten wir nur ohne diese vorgeblich differenzierende Analyse getan? Wären wir dann wohlmöglich jenen

diabolischen Auffassungen von der Wirtschaft

der „ewigen Linke[n]“ erlegen, die seiner Einschätzung nach keine Mehrheit in den heutigen Gesellschaften Europas für sich beanspruchen könnten?

Sloterdijks unter dem deutschen „Wir“ subsumierten Sorgen angesichts einer vermeintlich bereits vollzogenen sozialistisch-etatistischen Machtübernahme könnten uns (als empathische Wesen) fast zu Tränen rühren… wenn es da nicht eine sozial-ökologische Transformation zu gestalten gäbe!


Literaturverweis:

Sloterdijk, Peter/Unfried, Peter (Interview) (2015): »Macht euch die Erde Untertan – ein fataler Satz«, In: taz.zeozwei, 04.2015, S. 50f.
[ISSN 2194-1246]