Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: unsere „Externalisierungs-gesellschaft“

Wie verhält es sich nun mit spät-kapitalistischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert? Welches Verhältnis sie zu sich und den sie umgebenden anderen haben, verdichtet Stephan Lessenich im Begriff der

Externalisierungsgesellschaft.

In dieser würden nach Innen eingespielte „wohlstandsautoritäre“ (damit ausdrücklich vermeidend: „neoliberale“) Diskursteilnehmende und -prägende aus Wirtschaft und Politik in scheinbarer Selbstkritik beklagen, dass

wir über unsere Verhältnisse

gelebt hätten. Ihre daran anschließende Forderung nach dem (aufgrund seiner inflationären Verwendung: sicher schon ganz ausgeleierten) „enger zu schnallenden Gürtel“, um auch zukünftig dicke Bäuche in Aussicht stellen zu können, offenbart jedoch, wer hier über wen spricht:
in jeder Hinsicht Privilegierte (darunter: Macht, Status, Geld) verlangten von einem nicht genauer eingegrenzten „gesellschaftlichen Publikum“ materiellen Verzicht bzw. allgemeine „Anspruchssenkung“. Letztlich zielen sie damit auf Löhne und Sozialleistungen – nicht auf Profite, Renditen, Dividenden, Boni etc.. Und natürlich wird dies nur als Auftakt für einen neuen Wachstumsschub mit Wohlstandsgewinnen präsentiert, die am Ende dann ja auch „an alle“ verteilt werden könnten.

So berechnend falsch diese Bauch-Gürtel-Wachstums-Wohlstands-Metapher für die ansgesprochene Gesellschaft schon ist: sie fuße, so Lessenich, schon auf einer bewusst irreführenden Beschreibung der Verhältnisse. Denn es seien gar nicht „unsere Verhältnisse“, über die wir vermeintlich leben – sondern diejenigen „anderer“: mit seinem

Wir leben über den Verhältnissen anderer

legt er den Weltmaßstab an, der auf eine Polarität der Ungleichheit zwischen unserem globalen „Norden“ und dem „Süden“ der anderen hinausläuft. Die

soziale Realität der Externalisierungsgesellschaft

definiere sich demnach über

ihr Verhältnis zu anderen.

Es ist ein Ungleichheitsverhältnis, aus dem die Kontinuität ihrer privilegierten Position erwächst. Es gehe den Angehörigen der Externalisierungsgesellschaft faktisch deshalb so

gut, weil andere den Gürtel enger schnallen.

Und dieser Gürtel ist weit umfassender: Umwelt, Ressourcen, Gemeinschaft dieser „anderen“ werden mit ihrer geballten Zug- und Arbeitskraft zugeschnürt. Sie beweisen dabei eben jene Ausdauer und Langatmigkeit, welche die herrschende Meinung in der Externalisierungsgesellschaft unablässig von ihren Mitgliedern fordert.

Die der externalisierenden Gesellschaft eigene Erzählung klingt selbstredend anders:

da kommt dann der Strom aus der Steckdose, der Lohn aus den Tarifverhandlungen und die jährliche Wachstumsrate aus unternehmerischer Innovationstätigkeit.

In dieser Selbstdarstellung und dem dahinterliegenden Selbstverständnis komme die Externalisierungslogik schlicht nicht vor. Das führt Lessenich nicht auf ein schleierhaftes Nicht-wissen-Können, sondern auf ein

verallgemeinert[…es] Nicht-wissen-Wollen[…]

in Form von „individuellem und kollektivem Vergessen“ zurück, welches sich auf die Vergangenheit („wie es kam, dass wir so gut leben“) und auf die Gegenwart („wie es kommt, dass es so bleibt“) beziehe. Lessenich geht dabei soweit, einen

spezifischen Habitus

in dieser Gesellschaftsform anzusiedeln,

der das externalisierende Handeln individuell wie kollektiv als angezeigt, selbstverständlich und legitim erscheinen

ließe. Weiter spricht er von „psychischen Praktiken“, derer sich die Externalisierungsgesellschaft bediene und in der sich ihrer bedient werde: von Abwälzung und Auslagerung über Abspaltung und Verdrängung bis hin zu Umlenkung und Entlastung reichten diese.

Der Psychologie entlehnt, beschreibt Lessenich die Externalisierung als Problemverarbeitung in diesem speziellen

gesellschaftlichen Seelenhaushalt.

Dieser Umgang mit Problemen ist psychologisch wie physisch enkeluntauglich, global unsolidarisch und schon mittelfrisitig dysfunktional. Wer in einer Externalisierungsgesellschaft lebt, sollte daher an ihrer sozial-ökologischen Transformation interessiert sein – nur so werden die Menschen einer solchen Gesellschaft eine lebenswerte Zukunft haben.


Literatur- und Internetquelle:

Lessenich, Stephan (2016): »Weil wir es uns leisten können«. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2016, S. 91-102

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „desillusionierte Linke“

Die Einsicht des Micha Brumlik in seinem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik (1’17), die ihm selbst

unabweisbar

erscheint, klingt schon ein wenig nach dem Fukuyama’schen „Ende der Geschichte“, wenn sie den

auf einer kapitalistischen Wirtschaft beruhende[n] (europäische[n]) demokratische[n] Sozialstaat

für „das Beste“ hält,

was die von Marx über Lenin bis Lukács zum revolutionären Subjekt erhobene Arbeitschaft welthistorisch erreichen konnte und vielleicht überhaupt erreichen kann.

Wie gut, dass Brumlik gleich noch

die Antwort einer aufgeklärten, liberalen, aber eben auch desillusionierten Linken

mitliefert, die sie neben ihrem „Kompass“ mit den Himmelsrichtungen entlang des

Prinzip[s] der Würde des Menschen in politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und versöhnter Verschiedenheit

parat haben sollte und die

nur darin bestehen[… kann], die Kritik am Kapitalismus aufrechtzuerhalten,

wobei er diese bereichert wissen möchte um eine weitere seiner Einsichten, die er widerum von Ulrike Hermann (2017) bezieht, wonach

kein Kapitalismus auch keine Antwort

wäre. Diese bezieht er offenbar aus dem Titel ihres Buches, den Brumlik hier (leicht abgewandelt) zitiert.

Man könnte Brumlik – provokant – zusammenfassen mit den Worten: Zenit erreicht. Mehr ist nicht zu holen. Proletarier aller Länder: findet euch ab!
Oder man betrachtet es als Beschreibung dessen, was gegen den Kapitalismus in dessen Herrschaftsbereich erkämpft wurde und nun gesichert werden soll.

Letzteres kommt jedoch an einer von Brumlik ungenannt gebliebenen Einsicht nicht vorbei: einem Wirtschaftssystem, welches von seinen Apologet_innen mit dem vermeintlichen Heilsversprechen unendlichen Wachstums auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen versehen wird und gleichzeitig global so wirkmächtig ist, muss nicht nur Kritik entgegengebracht werden – es muss nach (über-)lebensnotwendigen sozial-ökologischen Mindeststandards transformiert werden.

Welche Form es dann konkret annimmt und wie wir es dann nennen wollen – das ist Zukunftsmusik, deren Töne wir vielleicht heute schon zu komponieren begonnen haben werden.


Brumlik, Micha (2017): Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue reaktionäre Subjekt, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2017, S. 62

Hermann, Ulrike (2017): Aus der Krise nichts gelernt. Die Mythen der Mainstream-Ökonomie, In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2017, S. 71-82

Hermann, Ulrike (2016): Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können, Frankfurt am Main: Westend Verlag

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „Energiesklaven“-Metapher

Das „fossile Energieregime“ unserer Zeit stellt weit mehr als nur eine spezifische Form der Energieversorgung dar. Das wird uns spätestens dann bewusst, wenn wir dessen Verschränkungen mit den Gewohnheiten unseres Lebens – von Freizeitaktivitäten bis hin zu Konsum- und Mobilitätsmustern – erfassen.

Bereits 1949 beschrieb der rumänische Schriftsteller und Diplomat Constantin Virgil Gheorghiu in seinem Roman 25 Uhr (1949/1951) einen „technischen Sklaven“ als

Gefahr, die alle Menschen bedroht

aufgrund der Besetzung der

lebenswichtigen strategischen Positionen unserer Gesellschaft, Armee, Verkehr, Versorgung und Industrie, um nur die Kardinalpunkte zu erwähnen

durch eben diesen „technischen Sklaven“ in einer ebensolchen Weltordnung,

der uns täglich tausenderlei besorgt. Er bewegt unser Auto, er zündet unser Licht an, er läßt das Wasser über unsere Hände fließen, wenn wir uns waschen, er […] erzählt uns erheiternde Geschichten, wenn wir den Knopf an unserem Raido drehen, er baut Straßen, durchschneidet Berge!

In Niko Paechs Befreiung vom Überfluss (2014) verweist der Begriff „Energiesklave“ – im Sinne von Gheorghiu – als

elementarer Stützpfeiler des modernen Lebens

auf eben solche technischen Innovationen/Hilfsmittel/Werkzeuge, welche der Verwandlung von

vormals körperlich zu verrichtende Arbeiten in maschinelle, elektrifizierte, automatisierte, digitalisierte, dafür aber umso energieabhängigere Vorgänge

Vorschub leisten.

Jean-François Mouhot (2011) geht sogar so weit, unsere Abhängigkeit hinsichtlich der Nutzung fossiler Energieträger mit jener des Herren von der Sklavenarbeit in Sklaverei-Gesellschaften zu vergleichen (vgl. Sommer/Welzer 2014). Selbst auf moralischer Ebene muss diese Analogie als angemessen gelten, denn letztlich fügen wir – beabsichtigt oder nicht und wenn auch zeitlich wie geografisch versetzt – anderen Menschen Leid zu durch unseren Einsatz fossiler Brennstoffe und den damit verbundenen Treibhausgasemissionen.

Zuspitzung findet dies noch in der Metapher desEnergiesklaven“ von John R. McNeill (2005), die Sommer und Welzer (2014) wie folgt entfalten: Demnach

benötigte zum Ende des 20. Jahrhunderts ein Mensch zur Aufrechterhaltung seines Lebensstandards durchschnittlich 20 solcher »Energiesklaven«, also das Äquivalent von 20 Arbeitskräften, die 24 Stunden pro Tag und 365 Tage pro Jahr für ihn arbeiten

würden.

Fragen wir uns alle für einen Moment: Wie viele „Energiesklaven“ halte ich mir, um meine gewachsene Komfortzone aufrechtzuerhalten? Oder halten wir es auch weiterhin mit Franz Beckenbauer und seiner Blindheit für Sklaverei – selbst dann, wenn sie (auch in seinem Namen) ganze Stadien errichtet?


Literaturquellen:

Gheorghiu, Constantin Virgil (1951): 25 Uhr, 4. Auflage, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 58-68
[ISBN nicht verfügbar]

Paech, Niko (2014): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, 8. Auflage, München: oekom verlag, S. 40f.
[ISBN 978-3-865-81181-3]

sowie

McNeill, John R. (2005): Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 3
[ISBN 978-3-893-31643-4]

Mouhot, Jean-François (2011): Past connections und present similarities in slave ownership and fossil fuel usage, In: Climatic Change, Volume 105, Issue 1-2, Cham: Springer International Publishing S. 329-355
[ISSN 1573-1480]

beide nach:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 62
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „imperiale Lebensweise“

Ulrich Brand und Markus Wissen (2011) prägen den Begriff der „imperialen Lebensweise„, worunter sie folgendes verstehen:

herrschaftliche Produktions-, Distributions- und Konsummuster, die tief in die Alltagspraktiken der Ober- und Mittelklassen im globalen Norden und zunehmend auch in den Schwellenländern des Südens eingelassen sind.

Als „imperial“ müsse diese Lebensweise auch deshalb gelten, weil ihre Voraussetzung in einem – dem Prinzip nach – schrankenlosen Zugriff auf u.a. Raum, Ressourcen und Arbeitskraft an anderen Orten besteht. Die Absicherung dieser Zugriffsmöglichkeiten erfolge dabei sowohl auf rechtlicher, politischer bis hin zu: gewaltförmiger Ebene. Exklusivität bestimme letztlich diese Lebensweise, da sie darauf beruhe, dass der Resssourcenzugang nicht allen Menschen in gleichem Maß gegeben ist.


Literaturverweis:

Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2011): Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse, In: Demirovic, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hrsg.): VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg: VSA Verlag, S. 79-84
[ISBN 978-3-89965-404-2]

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „Reflexionsarenen“

Es sei bezeichnend für die bestehende nicht-nachhaltige gesellschaftliche Praxis der expansiv-extraktivistischen Moderne, so beschreiben es Bernd Sommer und Harald Welzer (2014) in ihrem Transformationsdesign, dass sie

jeweils Reflexionsarenen einrichtet, um den Normalbetrieb nicht zu stören und in Funktion zu halten. Das liegt in der Logik einer gesellschaftlichen Arbeits- und Funktionsteilung, die für moderne Gesellschaften charakteristisch ist: Es wird eine Reflexionsindustrie zum Thema Nachhaltigkeit etabliert, die überwiegend friedlich mit den fortgesetzten nicht-nachhaltigen Produktions- und Konsumptionsverhältnissen koexistiert. Das kann man nicht nur im Bildungsbereich [Beispiel: sog. »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE)] beobachten, sondern auch in der Klimapolitik, in der Mobilitätsentwicklung, beim Verbraucherschutz, wo auch immer: Jeweils etablieren sich reflexive Teilsysteme (Verbraucherberatung, Climate Service Center, CO2-Rechner), die die Verfahren des gesellschaftlichen Stoffwechsels selbst unberührt lassen.


Literaturverweis:

Sommer, Bernd/Welzer, Harald (Hrsg.) (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne, München: oekom verlag, S. 38f.
[ISBN 978-3-865-81662-7]

Kapitalismuskritik zwischen Anführungsstrichen: „the molten god“

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Folgenden Monolog legt Ngũgĩ wa Thiong’o einem fiktiven Anwalt in Nairobi, Kenya, in seinem Roman Petals of Blood in den Kopf und Mund [es handelt sich beim nachfolgenden Text um eine deutsche Übersetzung aus dem Englischen]:

Es ist traurig, es schmerzt, bisweilen werde ich wütend, wenn ich die schwarzen Zombies, schwarze animierte Cartoons betrachte, die des Beherrschenden Tanz zu des Beherrschenden Stimme tanzen. Das werden sie mit Perfektion tun. Wenn sie aber müde davon sind oder sollte ich sagen: wenn wir müde davon sind, wenden wir uns der Kultur unseres Volkes zu und missbrauchen sie… nur zum Spaß, nach einer Flasche Champagner. Doch ich frage mich: welche andere Frucht erwarte ich denn von dem, was wir gesät haben? Gleichwohl schaue ich zurück auf die vergeudeten Chancen, auf die versäumten Gelegenheiten: auf die Stunde, den Tag, die Zeit, als wir, an der Wegkreuzung, die falsche Abzweigung nahmen.

Aaah, das war eine Zeit, an die wir uns erinnern sollten, als die ganze Welt – motiviert durch unterschiedliche Beweggründe und Erwartungen – wartete, sagte: sie, die Afrika und der Welt den Pfad von Mannhaftigkeit und von schwarzer Wiedergutmachung zeigten – was werden sie mit der Bestie anstellen? Sie, welche die Speere der Krieger in dem Blut der weißen Profiteure wuschen, von all denen, die sie versklavt hatten zum Dienst für das geschmolzene Biest aus Silber und Gold – welchen Tanz werden sie nun in der Arena tanzen?

Wir hätten alles tun können, damals, denn unser Volk stand hinter uns. Doch wir, die Anführer, wählten den Flirt mit dem geschmolzenen Gott, ein blindes, taubes Monster, das uns hunderte Jahre lang geplagt hatte. Wir argumentierten: was falsch ist, ist die Hautfarbe der Menschen, die diesem Gott dienten; unter unserer Pflege und Vormundschaft werden wir den Monster-Gott zähmen und ihn unseren Willen durchsetzen lassen. Wir vergaßen, dass er schon immer taub und blind gegenüber menschlichem Leiden gewesen ist. Also errichten wir das Monster und es wächst und wartet auf mehr – und nun sind wir alle seine Sklaven. In seinen Schreinen knien wir und beten und hoffen.

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