Enkel*innentauglich versus senior*innenschonend?

Es scheint einen Unterschied zu machen, welcher Alterskohorte mensch angehört: Großmütter und Großväter als Risikogruppe in Zeiten einer Pandemie/Gesundheitskrise gelten als offensiv und mit Nachdruck zu schützen. Kinder und Jugendliche mit ihren (wissenschaftlich untermauert: realen) Zukunftssorgen angesichts einer zwangsläufig globalen Klimakrise wurden monatelang entweder als blauäugig belächelt oder als blaumachend beschimpft.

Das Kranzvirus und das Klima bekamen jeweils ein Kabinett. Im ersten wird gerade politisch, finanziell und solidarisch fast alles mobilisiert. Im letzteren reichte es nur für kompromissbedingte Bruchstücke dessen, was mindestens notwendig gewesen wäre.

Ist dieser Vergleich wirklich so abstrus oder gar: moralisch unzulässig? Weil das eine ganz unmittelbar drängt, Menschen in Särgen aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen getragen werden? Und das andere… irgendwie auch, aber eben nicht jetzt, nicht hier, nicht in diesem Frühjahr?

Vielleicht steht die Enkel*innentauglichkeit unseres Lebensstils einfach weniger hoch im Kurs als eine akute Senior*innenschonung im Angesicht einer zweifellos hoch ansteckenden und potentiell tödlich verlaufenden Viruserkrankung. Vielleicht ist die Gesundheit auch aus irgend einem Grund besser zu konservieren als ein intaktes Ökosystem. Oder zumindest lassen sich für den Erhalt von Gesundheit offenbar schneller und einleuchtender drastische Maßnahmen rechtfertigen und durchsetzen als für den Erhalt der Lebensgrundlage – für diese und die nächsten Generationen.

Die Großelterngeneration und jene der Enkel*innen geht gerade gesundheitsbewusst auf Abstand zu einander. Spätenstens wenn das Kranzvirus wieder mehr Nähe und sozialen Austausch zulässt, sollten beide dringend zusammenkommen und sich darüber verständigen, wie beide zu ihrem Recht auf Zukunft kommen können.

Degrowth by disease

Der Präsident des ifo-Instituts (eigentlich ein eingetragener Verein), Prof. Clemens Fuest, spricht davon, dass

jeder Monat, den wir die Wirtschaft ruhen lassen, […] etwa 3 bis 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts

in der heute-Nachrichtensendung vom 05.04.2020

von Deutschland kosten würde. Diese von einem Mutanten aus der Familie der Coronaviridae (corona = lateinisch für „Kranz“) erzwungene ökonomische Ruhe rüttelt weltweit an Volkswirtschaften. Oder wie Harald Welzer es nennt:

Der ganze wirtschaftliche Stoffwechsel [ist] nach unten gefahren.

in der ersten Sendung des After Corona Club vom 06.04.2020

(Der menschliche wiederum scheint angeregt zu sein, wenn mensch die enormen Massen an Mehl, Nudeln und Toilettenpapier auch nur irgendwie sinnvoll zu verarbeiten gedenkt.)

Was also bedeutet ein fuest’scher Verlust von 3,5 Prozent BIP pro Monat?
Zählen wir nun im Minutentakt Betriebe und Unternehmen, die für Mitarbeitende Kurzarbeit beantragen? Betrauern wir am Boden bleibende Flugzeuge auf Dritt-Startbahnen? Zittern wir mit dem deutschen Aktienindex um eine mythologisch-psychologische 10k-Marke? Wie steht das reale Sterben von Menschen zum ökonomischen Verlust im Verhältnis?
Oder bangen wir vielmehr mit Klein(st)unternehmen, Kunst- und Kulturschaffenden und dem sog. „Solo-Selbstand“ um ihre wirtschaftliche Existenz? Schicken wir dem Applaus für die Menschen, die gerade mit Überstunden in Krankenhäusern, Pflegeheimen, in Postverteilzentren und -wagen, in der Müllabfuhr und an der Supermarktkasse Krisenbewältigung betreiben, vielleicht endlich echte gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung (und damit: BIP-Promillepunkte) hinterher? Nehmen wir den Schmerz derjenigen wahr, die gerade geliebte Menschen verlieren?

Wenn seit 2014 zur Neuberechnung des BIP auch staatliche Rüstungsausgaben, Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Prostitution herangezogen werden – macht das vielleicht klar, warum das ein Messinstrument mit lediglich begrenzter Aussagekraft sein kann.
Die Existenzangst von Menschen ist schwerer zu beziffern: 7 Prozent mehr Kurzarbeitendengeld erhalten Elternteile (gegenüber 60 Prozent für Kinderlose) – darin drückt sich wohl kaum eine echte Wertschätzung aus. Ganz zu schweigen von jenen Menschen, die unmittelbar arbeitslos werden oder mit ihrem kleinen Unternehmen Insolvenz anmelden müssen.
Wie lange hält die Zustimmung zu den bisherigen Maßnahmen im Umgang mit dem C-Virus mit ihren einschneidenden sozialen wie wirtschaftlichen Folgen wohl an?

Werden wir nach den Einschränkungen und den damit verbundenen akuten Einsparungen beim (deutschen) Weltverbrauch einen gewaltigen Rebound-oder Aufhol-Effekt erleben? Oder erkennen mehr Menschen in einer

Phase der Pause […] des Normalbetriebs

Harald Welzer in der ersten Sendung des After Corona Club vom 06.04.2020

die Sinnlosigkeit eines Mehr vom Übermäßigen aus (Wirtschafts-)Prinzip und setzen Gewohnheiten aus der aktuellen Krise des Gesundheitswesens wohl überlegt fort?

Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.

Slavoj Žižek, März 2020

Der selbst- und fremdernannte „Trend- und Zukunftsforscher“ Matthias Horx entwirft in einem „Rausch des Positiven“ eine futur-zwei-eske „Rückwärts-Prognose“ (oder: „Regnose“), die aus dem Herbst 2020 zurückblickt. Zuvor hantiert er mit dem mathematisch-dentalmedizinisch-körpermodifizierenden Begriff der „Bifurkation, den er als „Tiefenkrise“ übersetzt.

Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, über-flüssig machen.

aus dem Artikel „Im Rausch des Positiven: Die Welt nach Corona“ im zukunftsInstitut im März 2020

Globalisierung passé, Spät-/Hyper-/Plattform-/Überwachungs-Kapitalismus out of order? So weit geht Horx in dem Text letztlich nicht, aber:

wir wundern uns, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass ein „Zusammenbruch“ erfolgte – der zuvor bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es  einen „schwarzen April“ gab, einen tiefen Konjunktur- und Börseneinbruch, und obwohl viele Unternehmen pleite gingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.

aus dem Artikel „Im Rausch des Positiven: Die Welt nach Corona“ im zukunftsInstitut im März 2020

Letztlich entscheidet diese (und jede andere) Gesellschaft kollektiv, ob die Transformation by disease von einer Transformation by design abgelöst worden sein wird. Es wäre ihr zu wünschen.

Brauchen wir wirklich drei Autos, Luxusurlaube und Wegwerfmode – brauchen wir das?! Nee! Was wir brauchen, sind: Beatmungsgeräte. Vielleicht sollten wir uns einfach mal vor Augen führen: Das größte Beatmungsgerät da draußen nennt sich „Erde“ – ja, Erde! Und die haben wir, die ist angeschlossen, die läuft und wir genießen das, was sie produziert – nämlich: einen Lebensraum. Nur wir Menschen, wir verhalten uns meistens so: Wir stehen an diesem Stecker, der zur Erde führt und denken: Da könnte man doch mal dran ziehen!

Sebastian Pufpaff in Noch nicht Schicht auf 3sat vom 07.04.2020